Tanz der Tage
Heute ist Silvesterabend, ein besonderer Abend im Ablauf der Zeit. Ein altes Jahr verabschiedet sich und das neue steht schon draußen und wartet ungeduldig auf den Einlass. Dieser Abend an einer Schwelle, ruft oft besondere Gedanken und besondere Empfindungen hervor und ich beschließe einen Blick in meine Höhle zu werfen, die Höhle mit dem Band der Zeit. Wird man den Übergang dort sehen können? überlege ich. Vorsichtig und leise nähere ich mich. Ruhig und gleichmäßig läuft das Zeitband dort entlang, man kann keinen Unterschied erkennen zu den anderen Zeitabschnitten.
Doch heute entdecke ich eine Treppe am Ende der Höhle, erstaunt kann ich leise Musik hören. Natürlich erfasst mich brennende Neugierde und ich gehe langsam auf diese Treppe zu.
Eine Wendeltreppe ist es und sie führt in den unteren Bereich der Höhle. Die Musik wird lauter und ein weiches Licht kommt mir entgegen. Als die Treppe sich dem Ende neigt, wird eine große unterirdische Höhle sichtbar, eingetaucht in ein wunderschön zartes Licht. Mein Schritt stockt vor Erstaunen und wie festgewachsen bleibe ich am Fuß der Treppe stehen. Hunderte von zarten fast durchscheinenden Wesen bewegen sich in der Höhle nach der Musik, sie tanzen. Ich setze mich auf die unterste Stufe der Treppe und schaue diesem zauberhaften Treiben lächelnd zu. Manchmal kann ich einige der klingenden Gesprächsfetzen dieser Wesen hören und nach einer Weile finde ich heraus, dass es die Tage des alten und des neuen Jahres sind, die sich hier im Tanze drehen. Traumhaft klingt die Musik, ich schließe meine Augen und lasse die weichen Klänge mein Herz berühren.
Von der Seite kommt eins der Wesen auf mich zu geschwebt, verneigt sich tief vor mir und sagt mit singender Stimme: „Möchtest du gerne tanzen mit mir?“ Es hält mir seine Hand entgegen und lächelt. Zögernd stehe ich auf und eine Frage geht durch meine Gedanken, die ich auch gleich ausspreche: „Welcher Tag bist du denn? Magst du es mir sagen?“ Das Tagwesen lächelt, „wirst du nur mir tanzen, wenn ich ein guter Tag für dich gewesen bin? Gibst du mir einen Korb, wenn ich ein Tag war, an dem du geweint hast und unglücklich warst?“
Ich muss wirklich nachdenken, ob ich das tun würde, könnte ich den Tag dann verändern? Ihn nachträglich glücklich oder unglücklich machen? Heute möchte er tanzen mit mir, gerade jetzt zu dieser wunderschönen Musik. Ich folge ihm und überlasse mich seiner Führung, wie lange habe ich nicht mehr getanzt. Jetzt tanze ich mit einem der Tage das letzten Jahres, oder tanze ich vielleicht mit einem Tag des neuen Jahres? Einem Tag der mir noch begegnen wird im kommenden Jahr. Werde ich an diesem Tag glücklich sein oder schrecklich weinen?
Alle Tage des letzten Jahres sind hier und tanzen, man kann sie nicht mehr verändern, sie werden um Mitternacht die Höhle verlassen. Die Tage das neuen Jahres tanzen auch und sie würden mir keine Antwort geben, wenn ich sie fragen würde, wann sie mir begegnen.
Trotzdem erfasst mich die Neugier, zu gerne würde ich wenigstens von einem Tag des neuen Jahres wissen, wann er mir begegnen wird und was an diesem Tag geschieht.
Ich frage meinen Tänzer, ob er mir einen Tag des neuen Jahres vorstellen kann, ob er mir diesen Gefallen tun würde. Er lächelt und ich glaube er kann meine Gedanken erahnen, oder er weiß sie schon. „Komm“, sagt er, „ich werde dir diesen Gefallen tun, aber denke genau darüber nach, ob du es auch wirklich wissen willst. Er begleitet mich zu einem Tagwesen, das sich in keiner Weise von den anderen Wesen unterscheidet. „Schau, hier ist ein Tag des kommenden Jahres, stelle deine Frage“. Das Tagwesen sieht mir entgegen, „was willst du wissen?“ fragt es mich. Ich betrachte den Tag neugierig, „du wirst mir im kommenden Jahr begegnen, kannst du mir schon sagen, was an diesem Tag sein wird? frage ich.
„Ja, ich könnte das“, antwortet er, „weil für alle Menschen der Lauf des Lebens schon festgelegt ist“. Er schaut mich ernst an, „die Frage ist, ob es gut wäre dieses Wissen zu haben. Stell dir vor“, spricht er weiter, „ich müsste dir sagen, das du in meinem Armen sterben müsstest, dann hättest du an jedem Tag des neuen Jahres, Angst vor dem Tod, denn du kannst uns ja nicht unterscheiden, du wüsstest ja nicht wann ich dir begegne. Du kennst ja nicht die Antwort, die ich dir auf deine Frage geben würde, willst du wirklich wissen was geschieht, wenn wir uns begegnen?“
Ich denke nach, will ich das wirklich? Wäre das letzte Jahr anders verlaufen, wenn ich vorher gewusst hätte, was geschieht? „Nein, ich will es nicht wissen“, sage ich, „du hast Recht. „Komm lass uns tanzen, dann will ich wenigstens sagen können, das ich einen Tag aus meiner Zukunft im Arm gehalten habe“. Er nimmt mich in den Arm und wir mischen uns unter die tanzenden Tage. „Vielleicht, aber nur vielleicht werde ich mich zu erkennen geben, wenn ich bei dir eintreffe im neuen Jahr. Und wenn ich es tue, dann wirst du es auch wissen, das verspreche ich dir“, lächelt er mir freundlich zu.
Von der Seite kommt lebhaft ein Tagwesen auf mich zu geschwebt. „Tanzt du mit mir auch einmal? Ich möchte dir etwas sagen“, lacht es mir zu, zieht mich an seiner Hand in die Mitte der tanzenden Tage. „Ich verrate dir etwas“, strahlt das Tagwesen mich an, „ich bin dein Geburtstag von diesem Jahr. du hattest einen so wunderschönen liebevollen Tag mit mir, das konnte ich einfach nicht für mich behalten“, lacht der Tag mich an. Mein Herz macht einen freudigen Sprung, mein Geburtstag, ein Tag voller Liebe und Glück, wie schön das ich ihn vor dem Ende des Jahres noch einmal treffe.
Es scharen sich noch einige Tagwesen um uns herum, es ist bald Mitternacht und die Tage des alten Jahres werden gleich gehen müssen. „Ich bin der Geburtstag deines liebsten Menschen, weißt du noch die ganzen Luftballons?“ sagt einer der Tage lachend.
Wieder macht mein Herz einen freudigen Sprung, wie sollte ich das vergessen haben? Soviel Liebe für diesen Herzenswunsch.
Die Tage des alten Jahres, bunt gemischt, jeder anders und doch gleichen sie sich alle. So werden auch die Tage des neuen Jahres sein, voller Überraschungen und jeder einfach einmalig.
Es ist Mitternacht, die Tage des alten Jahres stellen das Tanzen ein und versammeln sich, um die Höhle zu verlassen. Bin ich traurig, dass sie gehen? Bei manchen sicher, bei anderen nicht.
„Ja und ich bin der heutige Silvestertag, heute hat auch ein Mensch den du kennst Geburtstag“. ruft mir noch ein Tagwesen beim verlassen der Höhle zu. „Stimmt“, denke ich und winke ihm hinterher.
Die Tage des neuen Jahres tanzen noch nach der leisen Musik, aber bald werden sie auch aufbrechen um das neue Jahr anzufüllen mit Ereignissen. Ich gehe langsam zu der Wendeltreppe zurück, dort drehe ich mich noch einmal um und schaue auf das schöne Bild der tanzenden Tage. Ein Erlebnis der besonderen Art war das heute.
Lächelnd geh ich zurück und denke darüber nach, dass es ja sehr gut sein kann, dass an einem der Tage des neuen Jahres, mich einer an der Nase zwickt und sagt: „Da bin ich, weißt du noch wie wir getanzt haben?“
Ich würde es mir wünschen. Ein gutes neues Jahr euch allen.